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30. Juni 1914: Fahnen auf Halbmast in Singapur
Am 28. Juni 1914 fielen der österreichisch-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie einem Attentat zum Opfer. Damit begann das Ende einer Epoche und die Zeit der Weltkriege.
Telegrafie und die Entwicklung der Medienlandschaft brachten im Sommer 1914 den Namen Sarajevo und die Nachricht vom Attentat mit beeindruckender Geschwindigkeit weltweit in Umlauf. Dies hatte mit einem sich global erstreckenden British Empire, mit dem unmittelbaren Einbezug der Kolonien in die Kriegshandlungen und mit dem japanischen Bündnispartner zu tun. Die engen weltwirtschaftlichen Zusammenhänge und zusehends mobile Gesellschaften trugen dazu bei, dass Expats und Migranten, Internationalisten und Pazifisten, global tätige Unternehmer und Nachrichtenagenturen das Attentat in Sarajevo überall auf der Welt kommentierten.
„The Austrian Tragedy“: Sarajevo in der Tagespresse der Kronkolonie Singapur
The Straits Times, eine seit 1845 in Singapur erscheinende Zeitung, veröffentlichte am 29. Juni 1914 einen Bericht der Nachrichtenagentur Reuters und des Ostasiatischen Lloyd über das Attentat. Die diplomatischen Aktionen starteten einen Tag später, als die österreichisch-ungarische Botschaft in London den österreichisch-ungarischen Konsul in Singapur offiziell über die Ereignisse informierte. Am gleichen Tag wurde die Fahne auf Fort Canning, dem Regierungssitz der britischen Kronkolonie, auf Halbmast gesetzt. In den ersten Tagen interpretierte The Straits Times das Attentat in erster Linie als ein lokales Ereignis mit wenig Wirkung ausserhalb Österreich-Ungarns. Die Donaumonarchie stehe nun vor der Suche nach einem neuen Thronfolger, so der Tenor, und damit vor der Notwendigkeit einer neuen Politik für den Vielvölkerstaat. Mit der sich schnell etablierenden und immer wiederkehrenden Überschrift „The Austrian Tragedy“ vollzog das Blatt allerdings eine Kehrtwende: Mit Fokus auf Sarajevo und Wien präsentierte die Zeitung die lange schwelenden ethnischen Konflikte auf dem Balkan als selbstverschuldetes Problem, welches das Russische Reich auf den Plan rufen könnte. Die Zukunft der Monarchie hänge am seidenen Faden. Aber erst ab dem 8. Juli äusserte The Straits Times in einer Reihe von Artikeln Befürchtungen, der Konflikt könne sich zu einem Krieg auswachsen. Eine schlussendliche Beteiligung des Vereinigten Königreichs erschien zunehmend wahrscheinlich, Frankreich geriet ins Kreuzfeuer wegen seiner Rüstungspolitik („What is wrong with France?“) und zunehmend tauchten deutsche und französische Stimmen in der Berichterstattung auf, die eine Eskalation des Konflikts nicht mehr ausschlossen. Als ein die Weltpolitik dominierendes Ereignis erschien das Attentat trotzdem nicht: Kein Bericht schaffte es auf die Titelseite der The Straits Times.
Quellen: National Library Singapore
Der Papst und der deutsche Vorwärts in der australischen Presse
Der im australischen Adelaide seit 1858 erscheinenden Tageszeitung TheAdvertiser blieb das Attentat in Sarajevo ebenso wenig verborgen. Die nahezu deckungsgleiche Berichterstattung in The Advertiser und The Straits Times zeugt dabei von der Ausstrahlungskraft global tätiger Nachrichtenagenturen wie zum Beispiel Reuters auf verschiedene Regionen der Welt: Die Ermordung Franz Ferdinands war Teil eines globalen Nachrichtenwesens, in dem das internationale Agenturwesen als Gatekeeper über die Herstellung und Verbreitung von Informationen wachte.
In wenigen Kommentaren präsentierte die Zeitung das Attentat als selbstverschuldeten politischen Mord, denn Franz Ferdinand sei „eine Quelle konstanter Ängste auf dem Kontinent“ und der „gefährlichste Mann in Europa“ gewesen (The Advertiser, 1. Juli 1914, S. 15). Ab der ersten Juliwoche weitete The Advertiser seine Berichterstattung zu einer europäischen Presseschau aus: Die Anteilnahme des Papstes fand genauso Platz wie Stimmen europäischer Presseorgane aus Deutschland (hier der damals sozialistische Vorwärts), England, Russland, Ungarn oder Serbien. So zitierte The Advertiser am 7. Juli 1914 die halbstaatliche Pester-Lloyd aus Budapest, wonach Österreich-Ungarn keinen Krieg wünsche, von Serbien allerdings erwarte, seinen nachbarschaftlichen Pflichten nachzukommen. Mit der ebenso zitierten Antwort des serbischen Pressependants, keine derartigen Verpflichtungen zu kennen, wies The Advertiser seine Leser früh auf sich verstärkende politische Spannungen hin. Nur zwei Tage später, am 9. Juli 1914, berichtete die Zeitung mit der Schlagzeile „Austria and Serbia – A Menacing Outlook“ über österreichisch-ungarische Truppenbewegungen an der Grenze zu Serbien und liess so nur wenig Zweifel an einer rapide sich verschlechternden Stimmung in Europa.
Quellen: National Library of Australia
„Special Cable to the New York Times“
Vortrefflich informiert präsentierte sich die New York Times, die mit eigenen Korrespondenten in Europa dem Attentat sowie den nachfolgenden Entwicklungen von Beginn besondere Aufmerksamkeit schenkte. Als eine der wenigen Zeitungen zeichnete die NYT ein einheitliches Bild der Ereignisse und bettete das Attentat in den grösseren Kontext einer spätestens seit den Balkankriegen 1912/1913 aus den Fugen geratenen Balkanpolitik Österreich-Ungarns ein. Unter der Überschrift „Brutal Revenge for Bosnia“ diskutierte das Blatt einen Tag nach dem Attentat die Gefahr eines internationalen Konflikts, den Österreich-Ungarn mit seiner Politik der ethnischen Ausgrenzung oder pan-slawische Agitationen von russischer Seite zu verantworten hätten. Mit international meinte die NYT allerdings das Mächtegleichgewicht in Europa und seinen Kolonien; eine Verstrickung der USA in den Konflikt schien unwahrscheinlich.
Quellen: The New York Times Archive
Manuel Dinkel, Manuel Knapp, Isabella Löhr