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Kolonialtruppen im Ersten Weltkrieg

Europäische Kolonien verliehen dem Ersten Weltkrieg von Beginn an eine globale Dimension. Insbesondere der Einsatz von Kolonialsoldaten wurde schnell zum Streitthema und brachte das rassistisch und hierarchisch definierte Verhältnis zwischen Kolonialherren und kolonialen 'Anderen' ins Wanken.

Am 28. Juni 1914 waren der österreichisch-ungarische Thronfolger und seine Frau in Sarajevo einem Attentat zum Opfer gefallen. Nach weltweiten Beileidsbezeugungen begann im Hintergrund eines vermeintlich ruhigen Sommermonats Juli das diplomatische Tauziehen. Unterstützt von deutscher Seite stellte Österreich-Ungarn Serbien am 23. Juli ein unannehmbares Ultimatum. Der österreichisch-ungarischen Kriegserklärung an Serbien am 28. Juli folgten wenige Tage später die russische Generalmobilmachung zur Unterstützung Serbiens. Am 1. August erklärte Deutschland Russland den Krieg, und binnen weniger Tage befanden sich die meisten europäischen Staaten und Japan im Kriegszustand. In dieser Phase handelte es sich zwar formal noch um einen europäischen Krieg. Neben der Beteiligung Japans sorgten aber auch bereits die europäischen Mächte mit ihrem weltumspannenden Kolonialbesitz dazu, dass bereits im August 1914 ein globaler Krieg begonnen hatte, der Truppen aus allen Gegenden der Welt involvierte. Dies galt besonders für Afrika: Im August 1914 stand der gesamte afrikanische Kontinent mit Ausnahme von Liberia und Äthiopien unter der kolonialen Herrschaft von Frankreich, Grossbritannien, Belgien und Deutschland. Von den anfänglich nicht in den Ersten Weltkrieg verwickelten Kolonialmächten Italien, Portugal und Spanien wahrte nur Spanien von 1914 bis zum Kriegsende Neutralität.

Die lange Zeit vorherrschende Ansicht, der Erste Weltkrieg sei ein europäischer Krieg gewesen, der an der Westfront in Belgien und Frankreich entschieden worden sei und sich erst mit der russischen Revolution und dem Kriegseintritt der USA 1917 zu einem globalen Konflikt ausgewachsen habe, übersah die Kolonialreiche und damit die globale Dimension, die diesem Krieg von der ersten Stunde an innewohnte. Die Kolonien spielten in den Ersten Weltkrieg auf verschiedene Weisen hinein: als Kriegsschauplätze, Rohstofflieferanten und Reservoir für Soldaten und Arbeitskräfte. Der Krieg, der als regionaler Konflikt auf dem Balkan im Juni 1914 begann, wurde bereits im August 1914 in Togo, Kamerun, Südafrika, Deutsch-Südwestafrika und Deutsch-Ostafrika sowie an der chinesischen Küste, in Mikronesien, Samoa und Neu-Guinea ausgetragen. Darüber hinaus band insbesondere die Entente die Kolonien in ihre Kriegsökonomien mit ein: Die britische Kolonie Indien beteiligte sich zwischen 1914 und 1920 mit 146 Millionen Pfund an den britischen Kriegskosten und belieferte die Insel mit kriegswichtigen Gütern wie Baumwolle, Jute, Papier und Wolle. Die französische Kolonialmacht erhielt ihrerseits Palmöl und Erdnüsse aus Französisch-Westafrika.

Einschneidend und nachhaltig verändert wurde das Verhältnis von Kolonien und europäischen Kolonialherren allerdings durch den Einsatz von Kolonialtruppen und Arbeitskräften aus Afrika und Asien an der Westfront. Grossbritannien rekrutierte zur Unterstützung seines Heeres hinter den Frontlinien ungefähr 330.000 zivile Arbeiter aus der Südafrikanischen Union, seit 1910 Dominion und später (ab 1931) Teil des Commonwealth, und den Kolonien Westindische Inseln, Mauritius, Fidschi-Inseln sowie dem Protektorat Ägypten. Frankreich brachte 185.000 aussereuropäische Arbeitskräfte zum Einsatz, die aus Algerien, Indochina, Marokko, Tunesien und Madagaskar stammten.

Tirailleurs sénégalais an der Westfront

Neben Arbeitern ohne militärischen Status, wie etwa jenen Chinesen, die an der Westfront Schützengräben aushoben, mobilisierten die europäischen Grossmächte vor allem Kolonialsoldaten für das europäische Territorium, schätzungsweise 650.000 an der Zahl. Grossbritannien rekrutierte zwar 1,5 Millionen indische Soldaten; von diesen wurden (notabene nur während der ersten Monate) lediglich 150.000 an die Westfront entsendet, während die Mehrheit dieser Kräfte in Mesopotamien gegen das Osmanische Reich und in Ostafrika gegen die deutschen sogenannten ‚Schutztruppen‘  eingesetzt wurde. Grössere Aufmerksamkeit zogen die französischen Kolonialsoldaten auf sich, die in den sogenannten régiments mixtes integraler Bestandteil der französischen Armee waren. Ab Oktober 1914 bis zum Waffenstillstand 1918 kämpften mehr als 440.000 zum Teil zwangsweise rekrutierte Soldaten aus Westafrika sowie etliche geschlossene Verbände aus Algerien, Marokko und Tunesien – meist erst 16-jährige Soldaten – auf den bis heute erinnerten Kriegsschauplätzen wie Ypern, an der Marne, der Somme und in Verdun, getreu dem Motto „Mort pour la France“. Bekannt wurde insbesondere die senegalesische Infanterie tirailleurs sénégalais.

Der Einsatz der Kolonialsoldaten war bei den Mittelmächten und den Alliierten umstritten. Frankreich entsandte Kolonialsoldaten auf das europäische Festland, wobei es diesen dort verboten war, auf Angehörige der deutschen Reichswehr zu schiessen. Neben dem Einsatz auf dem Kriegsschauplatz wurden etliche Kolonialsoldaten ebenfalls zur Zwangsarbeit in kriegswichtige französische Fabriken geschickt. Grossbritannien verzichtete nach wenigen Wochen auf die Entsendung solcher Truppen aufs europäische Festland. Winston Churchill, damals Erster Lord der Admiralität, und das Kriegsministerium plädierten für eine Verschiffung britischer Kolonialsoldaten nach Übersee, das britische Kolonialministerium verweigerte hingegen seine Zustimmung. Grund dafür waren Bedenken, ob die indischen Truppeneinheiten mit den klimatischen Bedingungen zurechtkommen würden. Über diese vordergründigen Einwände hinaus herrschte Sorge um die Aufrechterhaltung militärischer Kommandostrukturen. So berichtete die Times im Januar 1916, dass der Einsatz der Kolonialsoldaten mit Blick auf die Kommunikation von Schwierigkeiten geprägt sei. Als Beispiel zitierte die Zeitung eine Schlacht in Kamerun, in der britische und französische Kolonialsoldaten Seite an Seite gekämpft hatten, sich jedoch nur schlecht verstanden hätten. Viele der afrikanischen Soldaten sprachen kein Englisch, was zu Missverständnissen und Problemen während der militärischen Offensive führte.
Quellen: The Times. 

Tugend oder „Schmach“?

In derselben Ausgabe vom Januar 1916 berichtete die Times über einen offiziellen Rapport der französischen Militärführung über „the great offensive on the Western front, known as the Battle of Champagne, of September 24, 1915, and the following days”. Die aus Sicht der Entente schwere Niederlage für das deutsche Heer führte die Times auf die Tugenden und Kampfbereitschaft der französischen Soldaten, auf „the incomparable individual worth of the French soldier“ zurück (The Times, 1. Januar 1916, S. 4). Was hier als Erfolg französischer Werte und nationaler Opferbereitschaft gefeiert wurde, interpretierte die Oberste Heeresleitung des Deutschen Reichs gänzlich anders. Eine ein Jahr später veröffentlichte Fotografie von französischen Kriegsgefangenen, die bei erneuten Kämpfen in der Champagne gemacht worden war, zeigt zwei afrikanische Soldaten, wahrscheinlich aus Französisch-Guinea. Das Bild stammte vom Bild- und Film-Amt, ab 1917 für die Bild- und Fotopropaganda zuständig, und war übertitelt mit „Einige Typen der ‚Kulturträger‘ der Entente aus den letzten Kämpfen in der Champagne. Kämpfer aus Neu-Guinea“. Bei genauem Hinsehen erweist sich die vom Bild- und Film-Amt gelieferte Bildbeschreibung „Neu-Guinea“ als fehlerhaft, zumal die handschriftliche Zuordnung der Fotografie auf der Bildseite, Uniformen und Umstände der Gefangennahme eindeutig auf tirailleurs sénégalais aus den französischen Kolonien in Westafrika verweisen.

Der Einsatz der Kolonialsoldaten eskalierte innerhalb kürzester Zeit zu einem Streitthema, das die bis 1914 von den europäischen Kolonialmächten im Konsens gezogene Grenze zwischen – um in der Sprache der Zeitgenossen zu bleiben – Kultur, Zivilisation und Barbarei verwischte. Das rassistisch und hierarchisch definierte Verhältnis zwischen den europäischen Kolonialherren und den kolonialen ‚Anderen‘ geriet mit der Präsenz der Kolonialsoldaten an der Westfront ins Wanken.

Militärisch war der Einsatz der Kolonialsoldaten weniger bedeutsam als für das Verhältnis zwischen Kolonien und europäischen Kolonialherren. Niemals zuvor hatte es eine zahlenmässig derart starke Migration von Menschen aus Afrika und Asien nach Europa gegeben, und selten zuvor hatten Bewohner der Kolonien die Möglichkeit gehabt, sich in Europa ein eigenes Bild von den hier ansässigen Gesellschaften zu machen. Besonders die Mittelmächte wussten diese Einsätze propagandistisch auszuschlachten: Im April 1915 berichtete die Times in einer Art Presseschau deutscher Medien über die dort vorherrschende Ansicht, dass es den Alliierten ohne Kolonialsoldaten nicht möglich gewesen wäre, überhaupt gegen die deutsche Reichswehr anzutreten (The Times, 27. April 1915).

Hinter diesem Bericht stand der von der deutschen Propaganda sorgfältig gepflegte Topos von der Überlegenheit der europäischen Zivilisation, die es selbst während des Krieges gegen den Rest der Welt zu wahren gelte. Die Verwendung der Kolonialtruppen sorgte in Deutschland für einen Tabubruch: In der satirischen Zeitung Kladderadatsch war die Rede vom „häuslichen Streit“ zwischen weissen „Brüdervölkern“, der durch den militärischen Einsatz von „Kolonialvölkern“ unrechtmässig entschieden werde. Insbesondere französische Kolonialsoldaten beschrieb der Kladderadatsch als „wilde Menschenfresser und blutrünstige Bestien“. Unter der Überschrift „Die Zivilisierung Europas“ und mit einer Zeichnung auf dem Titelblatt, die einen tirailleur sénégalais mit allen verfügbaren rassistischen Stereotypen der Zeit darstellt – mit nacktem Oberkörper, Ring in der Nase, grossen Lippen, Händen und Füssen sowie einem umgehängten Totenkopf – beschwor die Zeitschrift den Untergang Europas. Der Einsatz dieser Truppen öffne die Tür zur Barbarei in Europa, weil er afrikanischen Soldaten Einlass gewähre; diese sah der Kladderadatsch überwiegend als minderwertige Menschen (Kladderadatsch, 23. Juli 1916). Die eigentliche Barbarei, so der Tenor, seien nicht deutsche Kriegsverbrechen – welche die Zeitschrift als solche auch nicht anerkannte –, sondern die Unterstützung europäischer Armeen in Europa durch die Kolonialbevölkerung und damit die Aufkündigung einer Art Solidarität zwischen den ‚weissen‘, ‚zivilisierten‘ Nationen Europas. In diesem Sinn bezeichnete das Berliner Tageblatt die Kolonialsoldaten als „schwarze Schmach“ oder „brutale Wilde“, die massenhaft Gewalttaten gegen deutsche Frauen und Kinder verübten – auch wenn die deutsche Propaganda und die Oberste Heeresleitung sich schwer taten, brauchbare Beweise vorzulegen (Berliner Tageblatt, 18. März 1915).
Quellen: Kladderadatsch; Berliner Tageblatt; The Times.

Kolonialsoldaten in Paris und algerische Fahrradfahrer à lacampagne

Die Heeresleitungen Frankreichs und Grossbritanniens bemühten sich um eine Gegenpropaganda, die den Topos des Zivilisationsbruchs schwächen und die Ängste der eigenen Bevölkerung über die Bewaffnung afrikanischer Soldaten und deren Präsenz in französischen Städten als freie Bürger auffangen sollte.

Dazu gehörten Fotografien, die Alltagsszenen zeigten, wie etwa verletzte Kolonialsoldaten in Begleitung französischer Militärs auf den Strassen von Paris oder Propagandafilme wie jener von 1915, in dem ein Regiment der tirailleurs in einem französischen Dorf geordnet Lager bezieht – angeführt von einer Reihe Fahrräder schiebender tunesischer Soldaten.

» Link zum Film: Défilé du 4e régiment de tirailleurs dans un village: nouba, prise d’armes sur la place, exercice d’assaut, fête et danse de l’« homme-cheval », numéros de jonglage avec fusil, scènes burlesques et jeu du sabre. Europeana 1914-1918. Obwohl der Filmtitel auf tirailleurs algériens verweist, handelt es sich um tunesische Truppenteile.

Der Einsatz der Kolonialsoldaten und die heftigen Auseinandersetzungen über die Konsequenzen für das Selbstverständnis der europäischen Öffentlichkeiten sowie für den Blick der Kolonien auf die Kolonialherren hatten bedeutende Konsequenzen für die europäischen Gesellschaften. Obwohl die Kolonialtruppen zahlenmässig nur einen Bruchteil der geschätzten 70 Millionen Bewaffneten des Ersten Weltkriegs ausmachten, erschütterten die Erfahrungen eines solch brutalen Konfliktes, den die von ihrer rassischen und zivilisatorischen Überlegenheit überzeugten europäischen Gesellschaften untereinander austrugen, ebendiesen Anspruch auf einen zivilisatorischen Vorsprung.

Ein anschauliches Zeugnis für das wachsende Selbstbewusstsein der Kolonien im und durch den Ersten Weltkrieg liefert der Wehrpass eines algerischen Soldaten, der von 1914 bis 1919 in Frankreich zunächst im ersten régiment de zouaves und dann im dritten régiment mixte zouaves et tirailleurs unter anderem in Verdun seinen Dienst leistete. Neben den üblichen Angaben zur Person und zum militärischen Rang finden sich Empfehlungsbriefe, die seinen Mut, seine Verantwortung und Einsatzbereitschaft hervorheben. Bemerkenswert ist das Deckblatt des Wehrbuchs: Es zeigt eine Fotografie des sichtbar stolzen Benito Perès vor einer Brüstung im Aufzug der tirailleurs algériens, umrankt von Laub und einer Banderole mit der Aufschrift „Honneur, Patrie, 1ème R de Zouaves“. Aufschlussreich ist der Bildhintergrund: Er zeigt eine Szene auf dem französischen Land, im Hintergrund eine idyllische Ansammlung von Häusern, im Vordergrund Bäume, zwischen denen bewaffnete tirailleurs sich vorsichtig aus der Deckung in Richtung Dorf bewegen.

Die kolonialen Unabhängigkeitsbewegungen in den frühen 1920er Jahren, wie etwa die Forderungen des indischen Nationalkongresses nach Unabhängigkeit von Grossbritannien, speisten sich nicht zuletzt auch aus diesen besonderen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs. Verdun oder die Schlachten an der Somme und der Marne hatten die Integrität der Kolonialherren infrage gestellt und die Wahrnehmung Europas als Vorbild und Inbegriff des zivilisatorischen Fortschritts grundsätzlich ins Wanken gebracht. Umgekehrt blieben die Kolonialsoldaten nicht ohne Wirkung auf die französische, britische oder deutsche Gesellschaft. Die plötzliche Präsenz von schwarzen Soldaten auf dem französischen Land oder in der Hauptstadt Paris wie auch die Notwendigkeit, Afrikaner mit Lebensmitteln zu versorgen und sie als „comrades-in-arms“ willkommen zu heissen, führte den europäischen Kolonialgesellschaften die Prekarität und Vergänglichkeit ihrer globalen Vormachtstellung deutlich vor Augen.

Naoual Astitouh, Cornelia Knab, Manuel Knapp, Isabella Löhr

Illustrationen: